Juristische Prüfungen neu denken
Die juristische Ausbildung steht an einem Wendepunkt: Während sich die juristische Praxis längst digitalisiert hat, verharren viele Prüfungsformate noch im analogen Zeitalter. Ein aktuelles Thesenpapier mit dem Titel „Juristisches Prüfen 2030“ trägt mit konkreten Vorschlägen zur allgegenwärtigen Debatte bei.
Die Unterzeichnenden, darunter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Hochschullehrende, vereint ein Ziel: eine realistische, praxisnahe und digital anschlussfähige Prüfungslandschaft für das Jahr 2030 zu entwerfen. Initiator ist der Bielefelder Doktorand Michael Strecker, der hierfür eine breite Expertenrunde versammelte. Einer von ihnen ist Professor Dr. Martin Fries, Zivilrechtler und Legal-Tech-Spezialist an der BSP Business and Law School in Berlin. „Es lässt sich faktisch nicht mehr verhindern – die Prüfungsformate müssen sich anpassen“, sagt der 44-Jährige im Gespräch mit azur.

Erste These: Juristische Prüfungsformate sind reformbedürftig.
Die Digitalisierung ist längst Teil der juristischen Arbeitswelt. Prüfungen, die handschriftliche Schnelligkeit und Auswendiglernen belohnen, verkennen diese Realität. „In Wissenschaft und Praxis wird kaum noch händisch gearbeitet. Klausuren sollten digital geschrieben werden, das ist technisch längst machbar“, so Fries. Gerade die universitären Prüfungen seien gegenüber den staatlichen Prüfungen reformbedürftig. „Die universitäre Prüfung ist nicht vereinheitlicht. Das ist für Studierende bitter, weil ihre Noten kaum vergleichbar und insofern für Arbeitgeber wenig aussagekräftig sind.“
Zweite These: Hausarbeiten können als „KI-Hausarbeiten“ einen Prüfungswert behalten.
Vor allem die klassische Hausarbeit steht unter Druck. KI-Tools wie ChatGPT können juristische Standardprobleme automatisiert lösen. Viele Universitäten schaffen solche Arbeiten bereits ab. Das Thesenpapier schlägt stattdessen „KI-Hausarbeiten“ vor. Diese sollen den kritischen Umgang mit digitalen Werkzeugen bewusst einfordern. Auch zur Rolle von Künstlicher Intelligenz bezieht der Zivilrechtsprofessor klar Stellung: Verbote hält er für realitätsfern. Vielmehr müsse die Aufgabe sein, Prüfungen so zu gestalten, dass sie die Eigenleistung trotz KI-Nutzung erkennbar machen. Dies bedeutet zum Beispiel, Studierende in die Pflicht zu nehmen, zitierfähige Quellen zu verifizieren und korrekt zu belegen. Diese Kompetenz ist auch im späteren Berufsalltag essenziell. Ergänzend sieht das Thesenpapier eine Aufwertung der mündlichen Prüfungen vor, um die Eigenständigkeit der Leistung zu sichern. „Mir persönlich ist nicht wichtig, ob die Arbeit mit KI geschrieben wurde, mir ist wichtig, dass die Person sie verteidigen kann“, betont Fries. „Die mündliche Prüfung sollte ein Kernbestandteil werden.“
Dritte These: Es braucht Klausuren mit und ohne digitalen Hilfsmittelzugriff.
Die Unterzeichnenden unterscheiden zwischen klassischen ‚Closed-Book‘-Klausuren, Hybridformaten mit beschränktem Zugang zu Datenbanken und sogenannten ‚KI-Klausuren‘, bei denen digitale Tools wie juristische Datenbanken und generative Sprachmodelle (Large Language Models) umfassend genutzt werden dürfen – allerdings unter Aufsicht. „Das Ziel ist nicht die Abschaffung des klassischen Prüfens, sondern eine Ergänzung durch realitätsnahe Formate“, sagt Fries. „In der Praxis arbeiten Juristinnen und Juristen schließlich auch mit digitalen Hilfsmitteln.“
Wie geht es jetzt weiter?
Aus Sicht von Fries fehlt es an klaren Zuständigkeiten für die digitale Modernisierung und oft auch an Mut. „An den meisten juristischen Fakultäten gibt es niemanden, der wirklich Verantwortung für digitalen Fortschritt übernimmt. Das Beispiel der Bucerius Law School zeigt aber, dass es auch besser gehen kann, wenn man systematisch Raum für Innovationen schafft.“ Die Thesen verstehen sich nicht als fertiges Konzept, sondern als Impuls. An guten Ideen mangelt es also nicht. Was es jetzt braucht, sind Pilotprojekte, Austausch und Menschen, die innovative Lösungen implementieren.