Kartellrechtlerin in Brüssel
Seit über dreißig Jahren berät Anne Federle ihre Mandanten im deutschen und europäischen Kartellrecht. Ihren Beruf und die Wahlheimat Brüssel verdankt sie einer Reihe glücklicher Fügungen – nicht zuletzt einer Zufallsbegegnung im Himalaja.
Fremdsprachen lernen und viel reisen – das war der Schlüssel zur Welt, als die Menschen noch ohne das Internet auskommen mussten. Anne Federle (63) sprach bereits Französisch und Italienisch und hatte sich nach ihrem Abitur zunächst für ein Romanistikstudium in ihrer Heimatstadt München entschieden. Eines Tages jedoch, so erinnert sie sich, saß sie in der Bibliothek der Romanistik, schaute aus dem Fenster und dachte: „Das Leben spielt sich da draußen ab und ich sitze hier im Elfenbeinturm. Ich möchte verstehen, was in der Welt passiert, wie Politik und Wirtschaft funktionieren.“ Gesagt, getan: Im Sommer 1983 wechselte Federle an die Universität Passau, um dort Jura zu studieren.
Trotz des Fachwechsels hielt sie an ihrer Begeisterung für Sprachen und andere Länder fest und gab ihrem Studium eine internationale Ausrichtung, indem sie alles belegte, was einen internationalen Bezug hatte – Völkerrecht, internationales Privatrecht, Europarecht. Während eines Auslandssemesters in Toulouse lernte die damals 25-Jährige ihren späteren Ehemann kennen, woraufhin sie den Rest ihres Jurastudiums in Freiburg – näher an Frankreich – absolvierte. Dass sie als Anwältin weder in München noch in Freiburg landete, sondern Brüssel zu ihrer Wahlheimat machte, war purer Zufall. Auf einer Reise nach Nepal, genauer gesagt auf einer Trekkingtour am Fuße des Himalaja lernten sie und ihr Mann belgische Touristen kennen.
Bei einem Wiedersehen der Reisegruppe in Brüssel kam Federle dann mit einem französischen Anwalt ins Gespräch, der für die belgische Kanzlei DeBacker arbeitete. „Er stellte mich seinem Chef vor und der meinte zu mir: ‚Mademoiselle Federle, Sie sind genau die Person, die wir suchen!‘“, erzählt sie. DeBacker ist heute Teil des CMS-Verbunds und zählt in Belgien knapp 100 Anwältinnen und Anwälte.
Bonjour Bruxelles
Damals ging alles ganz schnell: Federle begann in Teilzeit bei der belgischen Kanzlei zu arbeiten und machte nebenher einen Master im Europarecht an der Universität Löwen. Sie blieb der europäischen Hauptstadt immer treu, doch lockten bald andere Kanzleien mit internationalerem Geschäft und besseren Karriereperspektiven. Von einer Studienkollegin, die mit einem Partner der Kanzlei Boden Oppenhoff Rasor Raue verheiratet war, erfuhr sie, dass die deutsche Kanzlei eine Associate für das Brüsseler Büro suchte. Ein weiterer glücklicher Zufall. „Das war mein erster Vollzeitjob und wurde für viele Jahre meine berufliche Heimat“, erzählt Federle.
Autonomes Fahren wirft ständig neue kartellrechtliche Fragen auf.
Rund 18 Jahre lang war sie für die Kanzlei tätig, die ab 1995 unter Oppenhoff & Rädler firmierte und 2001 mit Linklaters fusionierte – 1998 ernannte man sie zur Partnerin. Im Jahr 2010 schlug sie jedoch ein neues Kapitel auf und wechselte zu der internationalen Tech-Kanzlei Bird & Bird, die sich zu dieser Zeit den Auf- und Ausbau ihrer Brüsseler Kartellrechtspraxis vorgenommen hatte. „Ich fand es enorm motivierend, nochmal in ein Team einzusteigen, das gerade etwas aufbaut. Dadurch hat man viel mehr Möglichkeiten, Prozesse mitzugestalten“, sagt Federle. Gegenwärtig ist sie Leiterin des Brüsseler Büros.
Akzentverschiebung
Ihr fachlicher Schwerpunkt verlagerte sich im Laufe ihrer Karriere. Hatte sie zu Beginn noch viel allgemeines EU-Recht gemacht, spezialisierte sie sich zunehmend auf Kartellrecht. Ein Werdegang, der für Brüssel nicht ungewöhnlich ist, denn die Stadt beherbergt mit der Europäischen Kommission eine der bedeutendsten Kartellinstitutionen. Sie ist für die europäische Wettbewerbskontrolle verantwortlich und setzt das EU-Kartellrecht um. Deutsche wie internationale Kanzleien sind mit eigenen Büros vor Ort präsent, um ein Ohr an der EU-Kommission zu haben. Daneben koordinieren sie von Brüssel aus die Anmeldung von internationalen Unternehmenszusammenschlüssen bei einer Vielzahl von ausländischen Kartellbehörden.
Derlei Fusionskontrollen beschäftigten Federle vor allem während ihrer Zeit bei Linklaters. Dafür ging es auch schon mal an ungewöhnliche Schauplätze. Federle erinnert sich an einen großen Fusionskontrollfall, bei dem ihr Team gemeinsam mit der EU-Kommission einen Schlachthof besichtigte. Auch wenn dieser Ortstermin nicht zu ihren persönlichen Highlights zählt, schätzt sie unverändert die Nähe zum Mandanten in der kartellrechtlichen Beratung: „Als Kartellrechtler sprechen wir viel mit Mandanten – über ihre Tätigkeit, ihre Produkte, ihren Markt.“ Dadurch erhalte man Einblicke in die unterschiedlichsten Wirtschaftsbereiche und bekomme ein wirkliches Verständnis von der Tätigkeit in einem Unternehmen. „Mich hat immer begeistert, wie vielseitig und lebensnah dieses Rechtsgebiet ist“, sagt sie.
Für ihre Mandanten bei Bird & Bird ist Federle heute viel im Automobilbereich unterwegs. Hier wirft das autonome Fahren ständig neue kartellrechtliche Fragestellungen auf. Eine andere Tätigkeit kann sie sich kaum mehr vorstellen: „Ich hatte wirklich Glück, einen Beruf zu finden, der mich so begeistert, mir so große Freiheiten bietet und immer neue Herausforderungen mit sich bringt.“ Nach Brüssel ist somit das Kartellrecht ihre zweite Heimat geworden. Ebenso wie die Studienvereinigung Kartellrecht, auf deren Tagungen regelmäßig das Who’s who der Kartellrechtsszene zusammenkommt. Während sich Federle als Junior Associate bei den ersten Sitzungen noch etwas verloren fühlte, ist sie heute selbst Mitglied des Vorstands. Als ihr vor acht Jahren der damalige Vorsitzende der Studienvereinigung die Position anbot, erreichte sie der Anruf zwar nicht im Himalaja, dafür aber auf einer holprigen Straße in Kambodscha.