Karrierewege in der Justiz
Unabhängig, angesehen und familienfreundlich: All das sind Attribute, die für den Berufseinstieg bei der Justiz sprechen. Sie bietet vielfältige Möglichkeiten, die eigene Laufbahn zu gestalten.
Ihr Ruf eilt Ann-Kristin Becker voraus: „Ich habe gehört, dass ich auf Studentenpartys schon als die ‚LinkedIn-Richterin‘ bezeichnet werde“, sagt die 33-Jährige und schmunzelt. Seit Anfang des Jahres nutzt sie die Plattform nicht mehr nur zur Kontaktpflege, sondern auch für Werbung für ihren Beruf. Becker ist seit rund sechs Jahren Richterin in Hamburg, seit Anfang 2023 am Amtsgericht St. Georg im Bereich Strafrecht. Wie ihr Alltag dort aussieht, teilt sie in regelmäßigen Posts.
Darin vermittelt sie Eindrücke von einer typischen Arbeitswoche und von Sitzungstagen oder räumt mit dem Vorurteil auf, dass man als Richterin nicht im Team arbeitet. „Viele Leute interessieren sich zwar dafür, wie unsere Arbeit aussieht, aber trauen sich nicht, uns direkt zu fragen.“ Mit ihren Beiträgen will Becker junge Juristinnen und Juristen für die Justiz als Arbeitgeberin begeistern. Denn wie nahezu überall ist auch dort der Fachkräftemangel spürbar. Nach Angaben des Deutschen Richterbundes fehlen allein in der Strafjustiz bundesweit mehr als 1.000 Richter und Staatsanwälte. Hinzu kommt eine anstehende Pensionierungswelle.

Deshalb drehen auch die Justizministerien der Bundesländer an unterschiedlichen Stellschrauben, um mehr Personal zu gewinnen. So hat Hessen zuletzt die Besoldung erhöht und die Notenvoraussetzungen leicht abgesenkt. Und Sachsen-Anhalt hat vor rund einem Jahr das Rotationsprinzip in der Probezeit abgeschafft, das zuvor immer wieder Kritik erntete. Nun müssen Proberichterinnen und -richter in den meist drei Jahren vor ihrer Ernennung auf Lebenszeit nicht mehr den Ort oder das Gericht wechseln.
Lehrjahre in der Probezeit
In anderen Bundesländern, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, ist der Wechsel nach wie vor fester Bestandteil des Berufseinstiegs. Laut dem Oberlandesgericht Köln sollen Assessorinnen und Assessoren dadurch „möglichst breit gefächerte Erfahrungen in den wesentlichen Feldern der richterlichen Tätigkeit sammeln“. Auch Dr. Sebastian Heite (35), heute Richter am Amtsgericht Köln, stieg 2020 zunächst am Landgericht ein und wechselte nach etwa sieben Monaten als Strafrichter an das Amtsgericht Leverkusen. Daran schloss sich noch eine Zeit am Amtsgericht Köln im Bereich Zivilrecht an.
Seine Probezeit konnte Heite aufgrund seiner Berufserfahrung von den normalerweise üblichen drei auf zwei Jahre verkürzen. Denn zuvor war er mehrere Jahre bei der US-Kanzlei Cleary Gottlieb Steen & Hamilton tätig, zunächst als studentischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter und anschließend circa eineinhalb Jahre als Anwalt im Kartellrecht und im Bereich Prozessführung. „Ich wusste aber bereits seit meinem Referendariat, dass ich eigentlich Richter werden möchte und habe das meinem Arbeitgeber gegenüber vor der Einstellung auch kommuniziert“, sagt er.

Als schließlich die Familienplanung in den Fokus rückte, entschloss er sich zum Wechsel. In den neuen Beruf musste Heite sich erst einmal einfinden: „Die Arbeitsbelastung am Landgericht war zu Beginn hoch, aber immer noch nicht mit dem vergleichbar, was ich aus der Kanzlei gewohnt war.“ Nach einigen Monaten sei ihm die Arbeit schon deutlich leichter gefallen.
Ganz wichtig zu lernen: Die Fähigkeit zur Selbstorganisation. „Man ist von Tag eins an für sein Dezernat und seine Akten zuständig, und wenn man die nicht abarbeitet, liegen am nächsten Tag weitere da“, sagt Becker. Gerade am Anfang werde man jedoch nie allein gelassen, sondern könne sich immer Rat bei erfahrenen Kolleginnen und Kollegen holen. Bei der nordrhein-westfälischen Staatsanwaltschaft werden Assessorinnen und Assessoren zunächst in einer allgemeinen Abteilung eingesetzt, wo sie es mit unterschiedlichen Arten von Kriminalität wie etwa Betrug oder Körperverletzung zu tun haben. Dort arbeiten sie anfangs mit einem Sicherheitsnetz: „In den ersten sechs Monaten werden alle Verfügungen, die sie treffen, von einem erfahrenen Kollegen oder einer erfahrenen Kollegin geprüft und gegengezeichnet“, erklärt Michael Schwarz.
Der 63-Jährige ist seit Anfang des Jahres Generalstaatsanwalt in Hamm und in der Rolle unter anderem für Personalthemen verantwortlich. So nimmt er etwa an Beurteilungskonferenzen teil. Auch alle Neueinstellungen für den Gerichtsbezirk gehen über seinen Schreibtisch. Spätestens nach dem ersten halben Jahr nehme die Verantwortung jedoch schnell zu: „Als Staatsanwältin oder Staatsanwalt greift man mit seinen Entscheidungen mitunter massiv in das Leben anderer Menschen ein. Dieser Verantwortung muss man sich bewusst sein.“ Das eigenverantwortliche Arbeiten ist auch einer der größten Unterschiede, die Sebastian Heite im Vergleich zur Tätigkeit als Associate in einer Großkanzlei sieht: „Als Richter habe ich – außer an Sitzungstagen – keine Vorgaben, wann und wo ich arbeiten muss. Homeoffice ist deshalb und dank der E-Akte bei uns kein Problem“, sagt er. „Als Anwalt war ich dagegen stark an meine Vorgesetzten und natürlich die Mandanten gebunden.“
Zudem sei die inhaltliche Sichtweise eine ganz andere: „Jetzt darf ich objektiv und unabhängig entscheiden, während ich als Anwalt Wege finden musste, die Interessen meines Mandanten durchzusetzen.“ Für Ann-Kristin Becker macht genau dieser Unterschied den Beruf aus: „Den Mandanten in den Wirtschaftskanzleien geht es hauptsächlich ums Geld und die Steigerung des Profits. Demgegenüber empfinde ich es viel sinnstiftender, als Richterin Recht zu sprechen.“
Mach’ was draus
Ein weiterer Vorteil sei die Abwechslung. Denn dass Richterinnen und Staatsanwälte nach bestandener Probezeit eine Stelle auf Lebenszeit erhalten, bedeutet nicht, dass sie bis zur Rente auf derselben Position verharren müssen. Eine Möglichkeit, um andere Bereiche kennenzulernen, ist eine zeitlich begrenzte Abordnung. Sie wird entweder von oben angeordnet, zum Beispiel, wenn andernorts Kapazitäten fehlen. „Weil unsere Mitarbeitenden als sehr qualifiziert geschätzt werden, sind sie auch außerhalb der Staatsanwaltschaften begehrte Kräfte“, berichtet Schwarz. Mögliche Einsatzorte seien die Landesjustizverwaltung, das Bundesministerium der Justiz, der Generalbundesanwalt oder Parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Zusätzlich können sich Interessierte initiativ auf Abordnungen bewerben.
Heite etwa ließ sich für rund eineinhalb Jahre in die Verwaltung des Oberlandesgerichts abordnen, wo er im Dezernat für Liegenschaften und Finanzen nun für Rechtsfragen im Rahmen der Verwaltung unter anderem der Gerichtsgebäude sowie der zentralen Vergabestelle zuständig ist. Dort ist er zum Beispiel in die Planung zum Bau des neuen Kölner Justizzentrums eingebunden. „Dabei kommen ganz unterschiedliche Rechtsgebiete zum Tragen, wie zum Beispiel Immobilien- und Baurecht, aber auch Vergaberecht“, erklärt er. „Und weil es auch um strategische Fragen geht, habe ich wieder mehr die Rechtsanwaltsbrille auf.“
Becker dagegen war rund drei Jahre am Amtsgericht Hamburg-Harburg im Bereich Straf- und Betreuungsrecht tätig, bevor sie sich entschied, dass sie gern wieder mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren würde. Also bewarb sich in St. Georg. „Weil der Hauptbahnhof in die Zuständigkeit des Gerichts fällt, habe ich hier jetzt mit vielen Haftsachen zu tun“, sagt sie. Und auch das wird vermutlich nicht ihr letzter Posten bleiben: „Natürlich bringt jeder Wechsel einen Reibungsverlust mit sich, aber mir macht es Spaß, wieder von vorn zu beginnen.“ Wer nicht direkt in komplett neuer Position anfangen will, kann sich stattdessen zum Beispiel in der Referendarausbildung einbringen, etwa als AG-Leiter oder als Prüferin.
Auch die Staatsanwaltschaft bietet – neben der Abordnung – unterschiedliche Möglichkeiten, Erfahrungen abseits der alltäglichen Arbeit zu sammeln. „Jüngere, besonders förderungswürdige Kolleginnen und Kollegen können insbesondere in den größeren Behörden die Aufgabe eines Präsidialstaatsanwalts wahrnehmen“, sagt Schwarz. „In enger Abstimmung mit der Behördenleitung bekommen sie dabei einen Einblick in die Verwaltung und Führung einer Strafverfolgungsbehörde.“ Eine weitere Option ist das Amt des Pressesprechers, das in der Regel parallel zur staatsanwaltlichen Arbeit ausgeübt wird. Zudem werde die Strafverfolgung zunehmend internationaler. „Dadurch ergibt sich immer häufiger die Möglichkeit, mit internationalen Behörden zusammenzuarbeiten“, so Schwarz.
Bessere Work-Life-Balance – theoretisch
Ein Aspekt, an den viele im Zusammenhang mit der Arbeit bei der Justiz denken, ist die bessere Work-Life-Balance – insbesondere im Vergleich zu Großkanzleien. „Für mich war die Familienfreundlichkeit einer der Gründe, warum ich mich zum Wechsel entschieden habe“, sagt Heite, der zwei kleine Kinder hat. „Die Arbeit in Teilzeit war von Anfang an kein Problem.“ Teilzeit bedeutet, dass Heite ein geringeres Pensum an Verfahren bearbeiten muss als Vollzeitkräfte.

Becker hat zwar eine volle Stelle, aber auch sie schätzt die Flexibilität, die der Beruf mit sich bringt:
„Ich kann mir meinen Tag frei einteilen. Im Kollegium ist es gang und gäbe, dass man mal eher Feierabend macht, ohne dass man deswegen schief angeguckt wird.“ Auch am Wochenende arbeite sie nicht. „Natürlich gibt es Phasen, in denen ich abends mal länger im Büro sitzen muss. Aber dann, weil ich mich selbst dafür entscheide und nicht, weil es mir von einem Chef oder einer Chefin vorgeschrieben wird.“
Lange Abende können auch bei der Staatsanwaltschaft vorkommen. Einem Pressebericht zufolge ist die Zahl der offenen Ermittlungsverfahren in Nordrhein-Westfalen in den letzten beiden Jahren um 34 Prozent gestiegen, sodass es zum Stichtag Ende März dieses Jahres 226.000 unerledigte Verfahren gegeben habe. Für den einzelnen bedeutet das natürlich eine höhere Arbeitslast. Zurückzuführen ist dies laut Schwarz ganz maßgeblich auf den Zuwachs an Aufgaben, die die Staatsanwaltschaft in den vergangenen Jahren übernommen habe.
Ein typisches Beispiel dafür ist die Vermögensabschöpfung: Seit einer Gesetzesreform im Jahr 2017 sind die Staatsanwaltschaften noch stärker mit dafür verantwortlich, Tätern, die sich illegal Vermögen verschafft haben, das Geld wieder abzunehmen. Auch die zunehmende Internationalisierung der Strafverfolgung sei zwar überaus positiv zu bewerten, sie bindet Schwarz zufolge aber zusätzliche Kapazitäten. Immerhin: „Proportional zur Arbeitsbelastung steigt nach meiner Wahrnehmung allerdings auch der Zusammenhalt im Kollegium, das hilft schon sehr, die hohe Arbeitsbelastung zu bewältigen.“
Die Leiter hoch
Mehr arbeiten muss auch, wer Karriere in der Justiz machen will. Richter und Staatsanwältinnen können entlang mehrerer Stufen aufsteigen, wobei es Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern gibt. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit steigen sie als Richter am Amts- oder Landgericht beziehungsweise als Staatsanwalt ein. Das höchste Amt ist das der Präsidentin oder des Präsidenten der Obersten Gerichtshöfe des Bundes. Dazwischen stehen unterschiedliche Stufen, wie zum Beispiel Vorsitzender Richter am Landgericht, Oberstaatsanwältin, BGH-Richterin oder Bundesanwalt.
Der berufliche Aufstieg bei der Justiz ist allerdings nur schwer planbar. Bei der Wahl der Bundesrichter etwa spielt neben der persönlichen Qualifikation der Kandidatinnen und Kandidaten auch ihre Herkunft eine Rolle. Denn beim Bundesgerichtshof sollen Richterinnen und Richter aus allen Bundesländern vertreten sein. Formelle Voraussetzung für den nächsten Karriereschritt ist in den meisten Bundesländern eine mehrmonatige ‚Erprobung‘. Sie findet in der Regel an einem Obergericht oder bei der Generalstaatsanwaltschaft statt. Aber auch an anderen Stellen können sich aufstrebende Richterinnen und Staatsanwälte erproben lassen, zum Beispiel bei Justiz- oder Bundesministerien oder als wissenschaftliche Mitarbeitende bei Bundesgerichten.
Die unterschiedlichen Karrierestufen zählen auch zu den Faktoren, die die Besoldung von Richtern und Staatsanwältinnen beeinflussen. Ihr ‚Gehalt‘ bemisst sich nach der Besoldungsordnung R, in der die Besoldungsgruppen vorgegeben sind. Die Höhe können die Bundesländer selbstständig festlegen. Die Unterschiede sind zum Teil groß: Während ein Berufseinsteiger in Bayern 5.021 Euro verdient, sind es im Saarland mit nur 4.377 Euro rund 644 Euro weniger. Danach steigert sich die Besoldung abhängig von Faktoren wie Berufsjahren, aber auch vom Familienstand oder der Anzahl der Kinder.
Im Vergleich zu Großkanzleien ist die Besoldung ein klarer Wettbewerbsnachteil für die Justiz: „Man kann davon zwar sehr gut leben, aber im Vergleich zur Kanzlei ist es ein großer Unterschied“, sagt Heite. „Allerdings wusste ich, worauf ich mich einlasse.“ Und das wiederum ist ein Vorteil, den die Justiz mitbringt: Sie bietet einen sicheren und planbaren Arbeitsplatz. Was Richterinnen und Staatsanwälte darüber hinaus mit dem Gestaltungsspielraum machen, den sie ihnen bietet, haben sie selbst in der Hand.
Wie viel Richterinnen und Richter in den unterschiedlichen Bundesländern verdienen, siehst du in unseren Gehältertabellen.