Der passende Fachanwaltstitel

Für Wirtschaftsanwältinnen und -anwälte ist der Fachanwalts­titel kein Muss. Ob die Zusatzausbildung sinnvoll ist, hängt eng mit dem Umfeld zusammen, in dem sie arbeiten.

In Deutschland sind wenige Branchen so stark reguliert wie das Gesundheitswesen. Wenn Investoren Krankenhäuser kaufen und Roboter künftig komplexe OPs übernehmen, hat der Staat darauf ein wachsames Auge. Deshalb geben zahlreiche Gesetze die Regeln im Gesundheitssektor vor. In diesem Umfeld arbeitet auch Lisa Bethge (31) in der Boutique D+B Rechtsanwälte in Berlin.

2022 erhielt sie den Titel Fachanwältin für Medizinrecht. Dass sie sich entschieden hat, den Titel zu erwerben, hat auch mit der Komplexität ihrer Mandate zu tun: „Mein Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Medizinprodukte- und Krankenhausrecht“, erklärt sie. „Ich wollte aber darüber hinaus auch Grundkenntnisse in weiteren Bereichen des Medizinrechts wie dem Vertragsarztrecht erlangen, um in der Mandatsbearbeitung noch mehr Zusammenhänge herstellen zu können.“

Orientierung schaffen: Lisa Bethge von D+B Rechtsanwälte kann nach dem Fachanwaltskurs im Medizinrecht ihr Fachgebiet besser überblicken. (Foto: D+B Rechtsanwälte)

Die Fachanwaltschaft für Medizinrecht ist eine von mittlerweile 24 Fachanwaltstiteln in Deutschland. Schon 1930 wurde die Bezeichnung ‚Fachanwalt‘ für fünf Gebiete zugelassen. Seitdem kamen – parallel zur zunehmenden Spezialisierung des Anwaltsberufs – immer weitere hinzu. Regelmäßig gibt es Diskussionen, ob weitere Fachanwaltschaften zugelassen werden sollten. Zuletzt wurde über den ‚Fachanwalt für Opferrechte‘ debattiert. Den Anwältinnen und Anwälten dient der Titel in erster Linie zur Werbung mit ihrer Spezialisierung. „Und auch für die Kanzlei ist er ein gutes Aushängeschild“, sagt Bethge. D+B bietet die Fortbildung interessierten Kolleginnen und Kollegen an, verlangt sie jedoch nicht explizit.

Maximal drei verschiedene Fachanwaltschaften darf eine Person führen. Die örtlich zuständige Rechtsanwaltskammer verleiht den Titel dann, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller „besondere theoretische Kenntnisse und besondere praktische Erfahrungen“ vorweisen kann. Welche genau, regelt die Fachanwaltsordnung, wobei sie für jedes Gebiet unterschiedliche Anforderungen vorsieht. Jedoch müssen die Antragstellenden in allen Fachrichtungen nachweisen, dass sie zuvor mindestens drei Jahre als Anwälte dort tätig gewesen sein müssen.

Einheitlicher Lehrgang

Die theoretischen Kenntnisse erlangen sie auf Lehrgängen, die mindestens 120 Zeitstunden umfassen müssen. Darauf haben sich unterschiedliche Anbieter spezialisiert und berechnen rund 2.500 bis 3.000 Euro. Wie auch bei Bethge werden die Kosten häufig vom Arbeitgeber übernommen. Weil ihre Kanzlei regelmäßig mit Arber-Seminare zusammenarbeitet, entschied sie sich für dieses in Köln ansässige Unternehmen.

Genau wie auf den 23 anderen Gebieten orientiert sich der Lehrgang im Medizinrecht eng an den inhaltlichen Vorgaben aus der Fachanwaltsordnung. Zu den „nachzuweisenden besonderen Kenntnissen“ zählen etwa das Haftungsrecht oder das Krankenhaus- und Apothekenrecht. Alle angehenden Fachanwältinnen und Fachanwälte müssen drei Klausuren bestehen. „Bei uns dauerte der Lehrgang insgesamt ein halbes Jahr und war in sechs Einheiten aufgeteilt. Die Klausuren haben wir etappenweise jeweils nach zwei absolvierten Lehrgangseinheiten geschrieben“, berichtet Bethge.

Die Fallliste steht im Zentrum

Ebenso wichtig wie die Theorie ist der praktische Teil der Fachanwaltsausbildung. Er besteht aus dem selbstständigen Bearbeiten von Fällen, die jeder Kandidat in einer Liste festhält. Auch hierzu macht die Fachanwaltsordnung genaue Vorgaben. Sie legt zum Beispiel fest, wie viele Verfahren die angehenden Fachanwältinnen und Fachanwälte geführt haben müssen. Je nach Fachgebiet weichen die Maßgaben teils erheblich voneinander ab. So schreibt die Fachanwaltsordnung für das Verkehrsrecht insgesamt 160 Fälle vor, im Vergaberecht sind es dagegen nur 40. Die Differenz lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass die Gebiete unterschiedlich komplex sind.

Bethge kann sich verschiedene Tätigkeiten anrechnen lassen, zum Beispiel Klageverfahren, Gutachten oder selbst aufgesetzte Verträge. Um das Anwaltsgeheimnis zu wahren, musste sie die Mandate anonymisieren. Zum Erstellen der Fallliste hat sie mehrere Tipps: „Wenn möglich, sollte man mit der Erstellung der Fallliste beginnen, sobald man sich für den Fachanwaltskurs angemeldet hat und die Liste dann kontinuierlich pflegen.“ So erspare man sich am Ende viel Aufwand. Allerdings werden nur Fälle aus den vergangenen drei Jahren vor Antragstellung anerkannt. Zudem empfiehlt sie, die Mandate lieber zu ausführlich als zu knapp zu dokumentieren: „Manche Fälle werden stärker gewichtet als andere, zum Beispiel Verfahren, die über mehrere Instanzen gingen.“ Über die Gewichtung entscheidet für jedes Fachgebiet ein Ausschuss. Weil dieses Gremium womöglich nicht alle Mandate einer Liste anerkennt, ist es sinnvoll, zusätzliche Fälle als Puffer aufzunehmen. Wenn die Unterlagen nicht vollständig sind, kann der Ausschuss zudem ein Fachgespräch anberaumen, das ist jedoch eine große Ausnahme.

Ausruhen? Fehlanzeige

Keine Ausnahme hingegen gibt es bei der Fortbildungspflicht. Wer den Titel einmal hat, kann sich nämlich nicht darauf ausruhen. In jedem Jahr müssen die Fachanwältinnen und Fachanwälte 15 Fortbildungsstunden vorweisen, die sie für ihre Spezialisierung aufgewendet haben. Dafür können zum Beispiel auch Publikationen oder Dozierendentätigkeiten angerechnet werden. Ob große Unternehmen bei der Mandatierung auf Fachanwaltstitel achten, ist nicht sicher. In vielen Wirtschaftskanzleien steht der Master of Laws (LL.M.) hoch im Kurs. Er stellt eine Zusatzqualifikation mit fachlich ähnlichem Gewicht dar, jedenfalls wenn man den LL.M. in Deutschland absolviert.Wer sich nicht zwischen Fachanwalt und Master entscheiden will, dem könnte etwa an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster das JurGrad-Programm helfen. Dort können Anwältinnen und Anwälte gleichzeitig einen LL.M.-Abschluss und den Fachanwaltstitel erwerben.

Wer sich nicht zwischen Fachanwalt und Master entscheiden will, dem könnte etwa an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster das JurGrad-Programm helfen. Dort können Anwältinnen und Anwälte gleichzeitig einen LL.M.-Abschluss und den Fachanwaltstitel erwerben.

Auch Katharina Kuschefski, seit 2018 Associate bei Spieker & Jaeger, hat sich dafür entschieden. Die 33 Jahre alte Anwältin arbeitete in der Dortmunder Kanzlei zunächst im Allgemeinen Zivilrecht. Als sie ins Arbeitsrecht wechselte, verlangte sie, sich darin auch fortbilden zu dürfen. Durfte sie, und Spieker & Jaeger übernahm zudem die Kosten für die Fortbildung, die sich auf rund 12.000 Euro belaufen. Neben mehr Geld müssen Anwältinnen für JurGrad auch mehr Zeit einplanen. Insgesamt dauert das Programm drei Semester, daran schließen sich etwa vier Monate für die Masterarbeit an. „Man braucht ein gutes Zeitmanagement“, sagt Kuschefski. „Ich habe währenddessen Vollzeit weitergearbeitet und musste meine Termine und sonstigen Verpflichtungen somit regelmäßig an nur drei Tagen unterbringen.“ Denn einmal im Monat müssen JurGrad-Studierende von Donnerstag bis Samstag den Kurs besuchen. Hinzu kommen das Lernen für insgesamt acht Klausuren sowie die Masterarbeit. „Aber da das Programm darauf ausgelegt ist, es berufsbegleitend zu absolvieren, funktioniert die Zeitaufteilung zum Glück ganz gut.“

Für Kuschefski war das Programm zudem eine gute Möglichkeit zum Netzwerken. Auch, dass sich ihr arbeitsrechtlicher Kurs nicht nur an Juristen richtet, sondern zum Beispiel auch an Personalverantwortliche, hat ihr gut gefallen: „Personaler beurteilen arbeitsrechtliche Thematiken aus einer anderen Perspektive. Dieser Praxisaustausch war sehr wertvoll.“

Zeichen für Ambitionen

Bei Spieker & Jaeger ist Kuschefski derzeit noch die einzige, die das Münsteraner Programm absolviert hat. Dagegen haben viele der Juristen dort einen Fachanwaltstitel, einige auch zwei. Die Kanzlei verlangt von ihren Associates nicht explizit, dass sie einen Titel erlangen. „Aber es ist ein gutes Zeichen dafür, dass sie Ambitionen haben und ihre Karriere vorantreiben wollen,“ erklärt Dr. Achim Herbertz, Partner und Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz.

Fans des Fachanwaltstitels: Achim Herbertz und Katharina Kuschefski von Spieker & Jäger sehen den Tiel als Beweis für Karriereambitionen. (Foto: Michael Lübke)

Auch im Lebenslauf von Bewerbenden macht sich eine Zusatzqualifikation gut, findet der 59-Jährige. Dabei hat er weder für den LL.M. noch für den Fachanwaltstitel eine Präferenz: „Ich empfehle Berufsanfängern eher, sich für eine Zusatzqualifikation zu entscheiden, die ihren eigenen Wünschen und Neigungen entspricht.“ Der Vorteil der Fachanwaltschaft sei, dass sie wegen der Fortbildungspflicht jeden diszipliniere, sich weiterzubilden. Wie wichtig Mandanten der Titel ist, lasse sich zwar kaum messen. Aber es gehe auch um das Gesamtbild: „Auf dem Kanzleibriefkopf machen die Fachanwalts- und Doktortitel unserer Anwälte natürlich einen guten Eindruck.“

Mittelstand versus Großkanzlei

Dass die Fachanwaltschaft besonders in deutschen, mittelständischen Kanzleien und spezialisierten Boutiquen nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, bestätigt auch die azur-Associate-Umfrage von 2021. Darin geben insbesondere Befragte aus mittelständischen Einheiten an, dass ihr Arbeitgeber sie beim Erlangen des Titels unterstützt. Associates aus großen, internationalen Einheiten heben das weniger häufig hervor. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Fachanwaltschaft außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt ist: „Für ‚Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz‘ gibt es noch nicht einmal eine anerkannte englische Übersetzung“, berichtet Herbertz.

Auch bei Freshfields Bruckhaus Deringer spielt die Fachanwaltschaft nur eine untergeordnete Rolle, sagt Dr. Mario Hüther. Der 47-Jährige ist personalverantwortlicher Partner für Deutschland und Österreich und spezialisiert auf das Bank- und Finanzrecht. „Wir sind im Markt für unsere Top-Rechtsberatung bekannt und unsere Mandanten achten meist nicht darauf, ob die einzelnen Anwälte einen Fachanwalts- oder auch Doktortitel haben. Das gilt umso mehr im internationalen Kontext.“

Der Kanzleiname ist das Markenzeichen: Laut Mario Hüther achten die Mandanten von Freshfields meist nicht auf die Titel einzelner Anwälte. (Foto: Freshfields Bruckhaus Deringer)

Junge Kolleginnen und Kollegen unterstütze Fresh­fields eher dabei, sich selbst einen Namen im Markt zu machen. Hinzu kommt ein kanzleiinternes Ausbildungsprogramm, das in der azur-Associate-­Umfrage seit Jahren gute Noten erntet. Im Steuer­recht sei auch das Steuerberaterexamen eine Ausbildungs­option, so Hüther. „Und wenn ein Mit­arbeiter den Fachanwaltstitel erwerben möchte, ermöglichen wir das und tragen in der Regel die Kosten dafür. Aber unter den Partnern haben ihn nur wenige.“ Das habe auch mit dem Selbstverständnis der Kanzlei zu tun: „Wir sind absolute Spezialisten in dem, was wir tun.“ In seinem Berufsalltag im Bank- und Finanz­recht beschäftigt Hüther sich lediglich mit einem kleinen Ausschnitt dessen, was im Fachanwaltslehrgang vermittelt wird. Der Beratungsansatz ist viel spezialisierter, als es die Fachanwaltssystematik hergibt.

Die kritische Einstellung der Großkanzlei passt zur Statistik der letzten Jahre. Die Anzahl an Fachanwaltschaften steigt zwar weiterhin kontinuierlich, jedoch nicht so stark wie noch vor einigen Jahren. Achim Herbertz hat dafür einen Erklärungsansatz: „Die sozialen Medien wie LinkedIn und Co. bieten Anwälten mittlerweile ganz andere Möglichkeiten, für ihre Person zu werben als noch vor ein paar Jahren.“ Ob er das positiv finden soll, weiß er nicht: „Ich bin auch ein Freund der Meisterberufe. Damit ist nun mal ein gewisser, einheitlicher Qualitätsstandard garantiert.“


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