Wenn alles Kopf steht

Druck und Stress können auf Dauer psychisch krank machen. Beides gibt es in Wirtschaftskanzleien zuhauf. Viele versuchen deshalb mit Resilienz-Workshops vorzubeugen oder kooperieren mit Psychologen. Reicht das aus, wenn ein grundlegender Kulturwandel ausbleibt?

Irgendwann ging nichts mehr: „Ein einfacher Anruf, eine E-Mail, ein Gespräch unter Freunden: All das schien plötzlich nicht mehr machbar oder verlangte eine ungeheure Kraft und Ausdauer“, berichtet Dr. Susana Campos Nave. „Mein Berufsalltag bestand daraus, möglichst nicht die Fassung zu verlieren und nicht aufzufallen.“ 2017 wurde bei Campos Nave, Strafrechtlerin und Associated-Partnerin bei Rödl & Partner, eine schwere Depression diagnostiziert. Es folgten fast vier Monate stationärer Aufenthalt in einer Psychiatrie und weitere zwei, in denen sie krankgeschrieben war. Danach stieg sie langsam wieder in den Beruf ein.

Mit ihrer Krankheit ist Campos Nave nicht allein. Das zeigen diverse Studien aus den USA zum Thema mentale Gesundheit bei Anwältinnen und Anwälten. So gaben 2023 in einer Umfrage von ,The American Lawyer‘ und ,law.com‘ rund 38 Prozent der fast 3.000 Teilnehmenden an, dass sie mit Depressionen zu kämpfen haben. Rund 71 Prozent leiden demzufolge unter Angstzuständen, etwa genau so viele fühlen sich erschöpft.

Mehr als ein Viertel der Befragten haben ihren Alkohol- und Drogenkonsum wegen ihres Arbeitsumfeldes erhöht. Auch zum Äußersten sind US-Anwältinnen und -Anwälte einer groß angelegten Umfrage des ‚Healthcare‘-Journals zufolge bereit: Sie ergab, dass Suizidgedanken bei dieser Berufsgruppe mehr als doppelt so wahrscheinlich sind, wie bei der allgemeinen erwachsenen Bevölkerung.

Weit verbreitet, aber stigmatisiert

Und in Deutschland? Wer sich in der Kanzleiwelt umhört, erfährt von Dutzenden Betroffenen: „Ich kenne bestimmt 40 Beispiele, bei denen Anwälte einen Burn-out oder andere psychische Erkrankungen entwickelt haben“, sagt ein ehemaliger Managing-Partner einer internationalen Großkanzlei. Auch Suizide haben die Szene in den vergangenen Jahren immer wieder erschüttert: „Das Problem sind diejenigen, bei denen nach außen alles immer nur toll ist, und die nie zugeben können, wenn mal was nicht so gut läuft“, sagt ein Partner einer US-Kanzlei.

Das Liquid Legal Institutes (LLI) widmet sich der Transformation des Rechtssektors. Weil es bislang keine Daten aus Deutschland gab, hat es selbst eine Umfrage angestoßen. Es entstand eine repräsentative Studie mit rund 150 Teilnehmenden, die das LLI 2022 unter dem Titel ‚Lawyer Well-being: The Silent Epidemic‘ veröffentlichte. Darin gaben 70 Prozent der Befragten an, dass sie mindestens einmal in ihrer Karriere arbeitsbedingt Probleme mit ihrer mentalen Gesundheit hatten (Grafik: Weit verbreitet). Genauso viele kennen Kolleginnen und Kollegen, die damit zu tun hatten. Und 80 Prozent stimmten zu, dass der Umgang damit in der Rechtsbranche stigmatisiert sei.

Campos Nave bestätigt das: „Rechtsanwälte folgen einem ganz bestimmten Berufsbild“, erklärt sie. „Schon in der BRAO steht, dass wir unseren Beruf gewissenhaft ausüben müssen. Und dass wir uns der Achtung und des Vertrauens, die unsere Stellung erfordert, würdig erweisen müssen.“ Kaum ein Berufsbild verlange so sehr, dass man die Mandanten wohlwollend an die Hand nimmt.

Pandemie erhöht die Sensibilität

Auch möglichen Gründen, warum Anwältinnen und Anwälte besonders anfällig für psychische Erkrankungen sind, ging die LLI-Studie nach. Dazu zählen Stressfaktoren wie lange Arbeitswochen, eine unkontrollierbar hohe Arbeitsbelastung und die Abrechnung nach Stunden. Dazu kommt der Perfektionismus vieler Anwälte und die Angst, dass etwas schiefgeht. Ein weiterer Stressfaktor ist laut der Studie das Arbeitsumfeld mit seiner traditionellen, hierarchischen Struktur und der oft individualistischen und kompetitiven Arbeitsweise.

Und: 70 Prozent der Betroffenen von mentalen Problemen gaben an, dass sie keine Unterstützung von ihrem Arbeitgeber erhalten haben. Doch gerade seit der Corona-Pandemie kommt der Markt etwas in Bewegung. Das Thema mentale Gesundheit kam im Umfeld von Quarantäne und Co stärker in den Vordergrund.

Im Rahmen der azur100-Recherche hat die azur-Redaktion die Programme von Kanzleien umfassend abgefragt. Was sie anbieten, fällt sehr unterschiedlich aus. Linklaters etwa bietet neben psychologischer Beratung auch Schulungen zum Umgang mit Stress, zur Steigerung der Resilienz sowie Hilfe bei depressiven Phasen und akuten Krisen an. Auch Noerr will ihren Mitarbeitenden ‚effektive Tools zur Selbstfürsorge und zur achtsamen Selbstführung an die Hand geben‘. Bei Kanzleien wie Goodwin Procter, Milbank oder Sidley Austin können Mitarbeitende anonym Termine bei Psychotherapeuten wahrnehmen. Campos Naves Arbeitgeberin Rödl nimmt das Thema ebenfalls ernst: Die Kanzlei bildet ihre Mitarbeitenden zum Beispiel zu ‚mentalen Ersthelfern‘ aus, die als erste Anlaufstelle im Krisenfall dienen.

Bei einer Anwältin, die das Thema Gesundheitsförderung in ihrer Kanzlei stark vorangetrieben hat, macht sich mittlerweile Frustration breit: „Am Anfang sind noch einige Leute zu den Kursen gekommen. Aber irgendwann wurden es immer weniger“, berichtet sie. Das Problem sei, dass niemand Rechenschaft ablegen muss. „Die Teilnahme ist freiwillig und wird nicht als Arbeitszeit angerechnet.“ Auch aus der Partnerschaft sei wenig Unterstützung gekommen, von der eigenen Teilnahme am Programm ganz zu schweigen. „Viele leugnen, dass sie irgendein Problem haben“, erzählt sie. „Und das System lebt nun mal davon, dass die angestellten Anwälte viel arbeiten und abrechnen. Durch die immer höheren Gehälter steigen die Erwartungen zusätzlich.“

Kulturwandel von oben

Auch das Feedback der Associates in der azur-Umfrage fällt insgesamt gemischt aus. Während einige die Angebote loben, zeigen sich andere kritisch: „Auf dem Papier gibt es Trainingsveranstaltungen. Da man daran wegen der Mandatsarbeit nicht regelmäßig teilnehmen kann, bringen sie allerdings nicht viel“, lautet ein Kommentar. „Die Mails zu den Programmen wirken durch den Billable-Druck eher wie Hohn“, schreibt ein Associate aus einer anderen Kanzlei. Ein weiterer Teilnehmer bezeichnet die Angebote als „scheinheilig“, weil „gleichzeitig für die mentale Gesundheit nicht förderliche Leistungen abverlangt werden, um Anerkennung wie einen Leistungsbonus zu erfahren.“

Damit sich wirklich etwas ändert, ist ein grundlegender Kulturwandel nötig. Bleibt der aus, können Achtsamkeitstrainings oder ähnliche Angebot keinen nachhaltigen Effekt erzielen. Mittlerweile gibt es einige Initiativen im Rechtsmarkt, die in diese Richtung gehen, etwa den ‚Human-Centered Leadership‘-Circle des LLIs. Die Gruppe tauscht sich regelmäßig aus und trägt die LLI-Initiative zum Beispiel durch Vorträge in Kanzleien und Unternehmen. Auch der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien hat eine Taskforce für Lawyer Well-being ins Leben gerufen. All das macht Mut – aber der Weg zu einem wirklich gesunden System ist noch weit.


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