KI-Revolution in der Justiz

Fachkräftemangel und Massenverfahren bremsen seit Jahren das Tempo an deutschen Gerichten. Und auch die Digitalisierung könnte weiter sein. Doch ausgerechnet in Sachen künstlicher Intelligenz zeigen einige deutsche Gerichte vielversprechendes Engagement.

Olga, Frauke und Jano – so heißen sie, die Neuen in der deutschen Justiz. Statt um Mitarbeitende aus Fleisch und Blut handelt es sich hierbei allerdings um KI-Anwendungen, die derzeit an deutschen Gerichten erprobt werden. Damit zeigt sich die Justiz innovationsfreudiger als ihr allgemein zugetraut wird. Ob Innovationsgeist oder akuter Handlungsdruck dahinterstecken sei dahingestellt. Ein Grund für das Engagement ist jedenfalls, dass sich bundesweit offene Verfahren bei deutschen Staatsanwaltschaften türmen – rund 900.000 sind es im vergangenen Jahr laut Angaben des Deutschen Richterbunds gewesen. Auch die Zivilgerichte sind durch die hohe Zahl an Massenverfahren überlastet, mit denen Legal-Tech-Dienste wie Flightright oder Financialright sie konfrontieren. Das setzt die Justiz unter Druck und macht KI-Tools für Gerichte attraktiv. Doch was bedeutet das für den juristischen Nachwuchs und die Arbeitsweise bei Gericht? Sprechen Olga und ihre Kollegen demnächst Recht?

Eines der ersten Projekte hat das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ausgerollt und aus der Not eine Tugend gemacht: Das Gericht sah sich aufgrund des Dieselabgasskandals mit einer Flut von Klagen konfrontiert. Es musste plötzlich die zehnfache Menge an Fällen pro Jahr bearbeiten. Schnell war klar, dass dieser Berg an Schriftsätzen und Daten ohne digitale Hilfe nicht zu bewältigen sein würde. Im November 2022 kam daher Olga ins Spiel. Der ‚Oberlandesgerichtsassistent‘ unterstützt die Richterinnen und Richter in den vier Diesel-Senaten, indem er ähnlich gelagerte Fälle filtert und kategorisiert, die dann gesammelt bearbeitet werden können. Damit erspart das Tool den Richterinnen und Richtern ermüdendes Suchen, Kopieren und Einfügen von Hand. Denn um die einzelnen Klagen bestimmten Kategorien und entsprechenden Beschlusstypen zuzuordnen, müssen aus oft langen Schriftsätzen Informationen wie Kaufdatum, Fahrzeug und Motortyp, Fahrzeugidentifikationsnummer, Schadstoffklasse oder die Frage, ob das Fahrzeug von einem Rückruf betroffen war, ermittelt werden. Damit gehöre die manuelle Bearbeitung von Massenverfahren der Vergangenheit an, wie einer der am Projekt beteiligten Richter sagt. Für angehende Richter und Justizassistenten entfallen zeitintensive Routineaufgaben, wodurch mehr Zeit für juristisches Kerngeschäft bleibt.

Urteilsentwurf auf Knopfdruck

Vor ähnlichen Herausforderungen steht das Amtsgericht Frankfurt. Dort landen jährlich bis zu 15.000 Verfahren im Zusammenhang mit Fluggastrechten. Um diese Masse an Verfahren zu stemmen, lassen sich die Frankfurter Richterinnen und Richter testweise von einer KI unterstützen. Allerdings geht diese noch einen Schritt weiter als das Stuttgarter Modell: Der ‚Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch‘, kurz Frauke, kann Schriftsätze analysieren, Metadaten auslesen und unter Verwendung von Textbausteinen einen ersten Urteilsentwurf erstellen. Wird eine Klage etwa aufgrund von Wetterereignissen abgelehnt, verbindet Frauke die Textbausteine mit den relevanten Falldaten zu einem Entwurf für ein mögliches Urteil, der anschließend vom zuständigen Richter weiter bearbeitet werden kann.

Impulsgeberin: Sina Dörr ist Richterin am OLG Köln und beschäftigt sich mit Fragen des digitalen Wandels. Foto: Oberlandesgericht Köln

Was nach Urteilsroboter klingt, soll genau das jedoch nicht sein. „Wir teilen die Auffassung, dass KI nur begrenzt in der Justiz eingesetzt werden sollte“, betonte der hessische Justizminister Roman Poseck bei der Unterzeichnung der Absichtserklärung zum Projekt. „Die Richterinnen und Richter müssen weiter im Mittelpunkt der Urteilsfindung stehen. KI ist ein wichtiges Mittel zur Unterstützung, nicht jedoch ein Ersatz für den Menschen.“ Auch Sina Dörr (43), Richterin am Oberlandesgericht Köln, sieht in KI vor allem ein unterstützendes Hilfsmittel, nicht aber einen völligen Ersatz für den Menschen. Ihre persönliche Meinung dazu: „Hochsensible Inhalte wie Urteile und Beschlüsse, sprich Gerichtsentscheidungen, sollten einer finalen menschlichen Kontrolle und Entscheidungshoheit vorbehalten bleiben.“ Allerdings sieht sie gerade im Bereich der Rechtspflege und Justizassistenz viele potenzielle Anwendungsfälle. „Die Rechtsprechung im Kern ist ja nur die Spitze des Eisbergs ‚Justiz-Content‘. Darunter befindet sich ein gigantischer Anteil Justizkommunikation und von Verwaltungskorrespondenz, bei dem die Justiz KI sinnvoll und effizient einsetzen kann.“

Die Justiz sucht engagierte Leute

Zwei weitere Pilotprojekte, die genau hier ansetzen, tragen zur Abwechslung männliche Vornamen. Das Projekt Gottbert, kurz für ‚Gerichtliche Ordnung für Text- und Tabellen-Basierte Entitäten-Recognition Tool‘, ist ein Deep-Learning-Sprachmodell zur Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen. Es kann personenbezogene Daten erkennen und anonymisieren. Ähnlich funktioniert auch das KI-Projekt der Länder Baden-Württemberg und Hessen, das auf den Namen Jano hört und die Abkürzung für ‚Justiz Anonym‘ ist.

Das Tool durchsucht gerichtliche Entscheidungen, erkennt dabei ebenfalls personenbezogene Daten und schlägt diese zur Anonymisierung vor. Mitarbeitende in der Jusitz prüfen die Vorschläge der KI und geben sie frei. Ein Vorgang, der bislang manuell von den Gerichten durchgeführt wurde, was einen erheblichen Personalaufwand bedeutete und die breite Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen erschwerte. So vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von KI sind, so dringend braucht es Personal, das diese Prozesse vorantreibt. Dabei ist es oft die techaffine jüngere Generation, die zum Katalysator für neue Ideen wird. „Wir benötigen engagierte, neugierige Leute, die sich mit der Erforschung, Entwicklung und Implementierung von Legal Tech und KI in der Justiz befassen wollen. Noch haben wir davon zu wenige“, ist Dörr überzeugt.

Sie selbst ist seit März 2023 neben ihrer Rolle als Richterin am OLG Köln auch Co-Leiterin des Think Tank Legal Tech und KI in der Justiz Nordrhein-Westfalen, der unter anderem Pilot- und Forschungsprojekte initiiert und begleitet. Hierzu zählt auch das ‚Generative Sprachmodell der Justiz‘, kurz GSJ. In dem Projekt von Nordrhein-Westfalen und Bayern trainieren und erproben die Bundesländer ein generatives Sprachmodell für die Bedürfnisse der Justiz. So könnte das GSJ etwa dafür eingesetzt werden, Textbausteine zu formulieren, unstreitige Sachverhalte herauszufiltern und verschiedene Akten zu vergleichen. Dabei werden die jeweiligen Anwendungsfälle mit Praktikerinnen und Praktikern in Legal-Design-Workshops erarbeitet.

Dörr selbst sieht darin den richtigen Ansatz: „Es geht vor allem darum zu schauen, wie wir eigentlich arbeiten und welcher Zweck hinter bestimmten Arbeitsabläufen steht. Erst dadurch eröffnen sich uns neue Horizonte zur Prozessoptimierung, bei der wir auch KI einsetzen können.“ Losgelöste KI-Debatten würden ihrer Meinung nach lediglich dazu führen, dass sich die Justiz im Klein-Klein verlöre. „Wir müssen den Fokus darauf legen, wie wir die beste Justiz sein können mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.“ Zwar hat das GSJ nicht so einen schönen Vornamen wie andere KI-Tools erhalten. Doch mit dem Startschuss des Projektes nimmt das Thema KI-Einsatz in der Justiz nun auch in NRW an Fahrt auf.


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