KI als neue Routine
Alle sprechen von künstlicher Intelligenz. Auch im Rechtsmarkt bringt sie einiges durcheinander. Für junge Juristinnen und Juristen, die jetzt ihre Anwaltslaufbahn starten, bietet das viele Chancen in einem sonst eher konservativen Umfeld.
Wenn der typische Großkanzleipartner den Raum betritt, ist sofort allen klar: Der hat hier das Sagen. Ob bei Verhandlungen für eine komplexe Transaktion oder vor Gericht in einem kniffligen Verfahren: Er ist die Souveränität in Person und lässt keinen Zweifel daran, dass er Recht hat, alle Fäden in der Hand hält und überhaupt als einziger den Überblick behält. So sah das klassische Bild eines Großkanzleianwalts über Jahrzehnte aus. Und heutzutage? Wäre folgendes Szenario der Zukunft denkbar?: Neben dem Partner am Tisch sitzt ein Associate, vielleicht sogar ein Referendar, der zum zu verhandelnden Sachverhalt einen perfekt formulierten Prompt schreibt. Die künstliche Intelligenz (KI) spuckt ein Ergebnis aus und hebelt damit die Argumentation – und die Überheblichkeit – des Seniors in wenigen Sekunden aus.
Ein interessantes Szenario. Aber noch ist es nicht so weit. Ein Jurastudium lohnt sich auch in Zukunft, Juristinnen und Juristen werden weiterhin gesucht und gebraucht. Und es wird auch diejenigen brauchen, die in einer Kanzlei oder Rechtsabteilung an der Spitze stehen. Trotzdem ist es für angehende Anwältinnen und Anwälte eine besonders spannende Zeit, um ihre Karriere zu starten. Denn aktuell ist das anwaltliche Berufsbild sehr stark im Wandel. Die Beständigkeit oder auch Trägheit, die lange in Justiz und Kanzleien geherrscht hat, ist vorbei. Schon jetzt, unabhängig von KI, wird Rechtsdienstleistung anders erbracht als noch vor wenigen Jahren. Sie erfordert integrierte Zusammenarbeit in der Kanzleiorganisation. Die Rechtsanwälte, selbst die früher allmächtigen Partnerinnen und Partner, sind nur ein Rädchen unter vielen. Gerade im Wirtschaftsrecht fordern Mandanten, die selbst unter hohem Innovations- und Kostendruck stehen, ein sofort umsetzbares Beratungsergebnis, das immer seltener ausschließlich von Volljuristen kommt. Entscheidend für den Erfolg sind mittlerweile auch andere Professionen wie Softwareentwickler oder Projektmanager. Und natürlich eine wachsende Menge an Tech-Tools und Anwendungen, die KI-getrieben sind.

„Veränderungen bringen immer viele Chancen mit sich, nur muss man diese auch ergreifen“, sagt Stefan Schicker. Er kennt den Legal-Tech-Markt, war viele Jahre Partner und Geschäftsführer der mittelständischen Kanzlei SKW Schwarz, die früh den Einsatz von Tech-Tools getestet hat. Heute ist Schicker als of Counsel für SKW tätig, Vorstandsvorsitzender des Legal Tech Verbandes und als Innovationsberater für Kanzleien in der Branche aktiv.
Bislang sind KI-basierte Anwendungen vor allem dafür gut, viele der eher nervigen Aufgaben aus dem juristischen Alltag zu übernehmen. Doch schon diese kleinen Schritte bringen die gesamte Arbeitsorganisation in einer Kanzlei in Bewegung. Durch automatisierte Abläufe eröffnen sich viele neue Möglichkeiten, die verschiedenen Tätigkeiten neu zu organisieren und Aufgaben zuzuschneiden. Beim Einsatz von generativer KI für komplexe Beratungsfragen kommt es dann vor allem auf eine veränderte Denkweise an. Denn dafür muss die Juristin oder der Jurist eine Idee davon haben, was sie oder er von der KI überhaupt möchte. Welches Arbeitsergebnis erhoffe ich mir? Diese Idee muss dann in das System der KI übertragen werden, meist in Form eines guten, heißt möglichst präzisen, Prompts.
Gretchenfrage: Associate-Ausbildung
Anschließend gilt es, das Ergebnis der KI auf Fehler zu kontrollieren. Dieser Schritt gehört zu den wichtigsten, weil die KI immer wieder halluziniert, man sich auf ihre Resultate keinesfalls ohne Gegenprobe verlassen kann. Doch der KI-Check bringt eine große Herausforderung mit sich: Wie sollen junge Juristinnen und Juristen die Arbeit der Technologie beurteilen, wenn sie selbst bestimmte Tätigkeiten künftig gar nicht mehr lernen müssten, weil die ja ein Tool für sie erledigt? „Wie sich die Ausbildung verändern muss und wie Juristinnen zu Spezialisten werden, die die nötige Erfahrung mitbringen, um Fehler zu erkennen, das ist aktuell die große Gretchenfrage“, sagt auch Schicker. Bislang sind Aufgaben, die diesen Erfahrungsschatz wachsen lassen, typischer Teil der juristischen Ausbildung. Referendare verbringen viel Zeit damit, Dokumente inhaltlich zu erfassen, Zusammenfassungen zu erstellen, Quellen zu recherchieren und erste Entwürfe für Schriftsätze zu formulieren. Speziell die generative KI stellt diese eingefahrenen Ausbildungspraktiken infrage, weil sie eben genau das viel schneller kann. Und so werden zwangsläufig typische Ausbildungsfälle von der KI absorbiert.

KI: Wer macht das?
Tatsächlich ist es oft die jüngste Anwaltsgeneration, die sich in den Kanzleien mit dem Einsatz von KI und Legal-Tech-Tools befasst. Auf deren Engagement sind die Organisationen angewiesen, um die Entwicklung voranzutreiben. „Natürlich stellen wir besonders gern junge Anwältinnen und Anwälte mit hoher Techaffinität ein“, sagt Torsten Schneider, Director of Human Ressources der deutschen Mittelstandkanzlei Luther. „Auch die beste Technologie bringt nichts, wenn niemand sie bedienen kann.“ Zugleich kommen andere Disziplinen ins Spiel. In einer aktuellen JUVE-Umfrage zu Legal Tech und Legal Operations gaben 63,4 Prozent der Kanzleien an, dass sich Wirtschaftsjuristen, Legal Engineers oder Projektmanager kanzleiintern um Legal Tech kümmern. Das verdeutlicht einmal mehr, dass mehr Offenheit für nichtjuristische Studien- und Berufswege benötigt wird. Stefan Schicker sagt: „Ein großes Problem sehe ich darin, dass Juristinnen und Juristen ausschließlich in Jura ausgebildet werden.“ Zugleich werden Kenntnisse im Projektmanagement oder im Ungang mit IT immer zentraler. Vor allem muss aber im konkreten Mandat die Zusammenarbeit zwischen Juristinnen und Juristen und denjenigen funktionieren, die Prozesse steuern und die Technologie bedienen. Nur so kann echte Innovation entstehen, mit der eine Kanzlei Geld verdient.
Am Ball bleiben
„Die Juraleistung wird immer ein zentraler Bestandteil der Kanzleiorganisation bleiben“, sagt Schicker. Doch immer stärker gehe es um die sogenannte Delivery dieser Rechtsdienstleistung. Der Abschied von seitenlangen Gutachten in schwer verständlichem Jura-Deutsch ist nah. Beim „Abliefern“ kommt es jetzt auf das Zusammenspiel mit dem Mandanten an. „Dieser erwartet eine effiziente, innovative, praxisnahe Lösung für sein Problem und dafür sind technische Tools enorm wichtig.“
An Praxisbeispielen fehlt es nicht. Überall in der Rechtsberatung fallen Prozesse auf, die sich mit technischer Unterstützung effizienter gestalten lassen. Doch wie so oft ist es einfacher gesagt als getan, diese Abläufe wirklich zu verändern. „Zu Beginn ist die Begeisterung immer groß“, sagt Schneider. „Doch bis sich echte Routinen im Arbeitsalltag gefestigt haben, ist es ein weiter Weg, dafür muss man am Ball bleiben.“ Aus Bewerbersicht stellt sich die Frage, wie experimentierfreudig und offen eine Kanzlei für eine neue Aufstellung ist. Bei der Wahl des Arbeitgebers kann diese Offenheit heute eine zentrale Rolle spielen und sollte im Bewerbungsgespräch durchaus Thema sein. Trotz der aktuellen Entwicklungen dreht sich die Welt natürlich nicht gleich in die entgegengesetzte Richtung. „Der Rechtsmarkt in Deutschland ist eine extreme Blase gegenüber anderen Branchen. Er hält gerne an seinen Traditionen fest“, findet Schneider. Doch die neuen Perspektiven, mit der technologische Innovationen in die Branche kommen, sind deutlich sichtbar. Auch die Karrierefrage wird schon jetzt durchaus anders bewertet. Der klassische Karrieretrack vom Staatsexamen bis zur Partnerschaft ist längst nicht mehr die einzige Karriereoption in einer Kanzlei. Wer etwa nach dem Ersten Examen im Legal-Tech-Bereich einer Kanzlei schnell Fuß fasst, wird das Zweite Examen nicht vermissen. Ein solches Beispiel wäre vor Jahren noch die absolute Ausnahme gewesen, heute finden sich einige solcher Lebensläufe in vielen Kanzleien. Nichtsdestotrotz wird es weiterhin Partnerinnen und Partner geben, die eine echte Führungsrolle einnehmen. Sie akquirieren Mandanten und tragen die Hauptverantwortung. Doch die Rechtsdienstleistung selbst ist längst eine Teamleistung, und das hat auch viele Vorteile.