Interview: „Wir sind da und Teil des Rechtssystems“
Der Verein Afro-Deutsche Jurist:innen e.V. gründete sich im Jahr 2022 in Münster und zählt inzwischen über 100 Mitglieder. Er will die Sichtbarkeit für Schwarze* Personen im deutschen Rechtsmarkt erhöhen. Ivie Gabriel, Nelly Bihegue und Jermaine Washington sind Gründungsmitglieder des Vereins und im Vorstand. Im Interview sprechen sie über Diversität im Rechtsmarkt, kritische Strukturen und persönliche Erfahrungen.
azur: Wie nehmt ihr aktuell Diversität in der Justiz und dem Rechtsmarkt wahr?
Ivie Gabriel: Wenn ich früher an Jura dachte, dachte ich zugegeben – wie viele andere – an das Bild des weißen Mannes: Aber es gibt viele andere, die in dem Bereich Schwarz* sind. Wir sind da und Teil des Rechtssystems.

Nelly Bihegue: Man konnte lange Zeit den Eindruck haben, dass Menschen ‚wie wir‘ nicht unbedingt in der Justiz oder in der Anwaltschaft arbeiten. Ein wirkliches Bewusstsein dafür entwickelt sich jetzt und seit einigen Jahren mit der generellen Debatte um Diversität. Man wusste zwar, dass es irgendwo schon Schwarze* Richterinnen, Staatsanwälte und Anwältinnen geben muss, aber man wusste nicht, wo. Mit dem Verein haben wir jetzt die Möglichkeit, gewissermaßen Präsenz zu zeigen und, dass die Hautfarbe kein Hindernis ist. Wir gehören auch dazu. Die Justiz sollte zumindest in einem gewissen Maße ein Abbild der Bevölkerung sein, damit unterschiedliche Perspektiven nicht fehlen.
Vor welchen strukturellen Herausforderungen stehen afrodeutsche Juristinnen und Juristen?
Jermaine Washington: Viele Mitglieder aus unserer Community kommen nicht aus einer Akademikerfamilie oder haben jedenfalls keine Juristen als Eltern. Deshalb fehlt oft das berufliche Netzwerk, um schneller und einfacher Fuß zu fassen. Es fehlt an afrodeutschen Vorbildern für Menschen, die Jura studieren oder im Referendariat sind. Wir wollen dieses Netzwerk bieten. Bei uns können sich Nachwuchsjuristinnen und -juristen Rat einholen und sich allgemein vernetzen und austauschen.
Gibt es Beispiele, in denen ihr im beruflichen Alltag anders behandelt wurdet?
Washington: In meiner Anwaltstätigkeit kommt es regelmäßig dazu, dass es in Calls mit anderen deutschen Anwälten heißt, sobald ich den Meetingraum betrete: „Oh, dann müssen wir jetzt Englisch sprechen.“ Obwohl allen klar war, dass es rein unter deutschen Anwälten stattfindet. Ein richtiger Cringe-Moment war als mir ein deutscher Anwalt der Gegenseite in einem englischsprachigen Meeting zur deutschen Investitionskontrolle, an dem ich klar als zuständiger Anwalt teilnahm, versucht hat zu erklären, wie die deutsche Investitionsprüfung funktioniert, weil er sich offensichtlich nicht vorstellen konnte, dass es gerade um mein Fachgebiet geht.

Wie hast du reagiert?
Washington: Ich glaube, wir im Raum waren alle etwas schockiert. Ich habe einfach ein wenig gelächelt und war wahrscheinlich auch etwas überfordert mit der Situation. Ich habe zunächst nichts gesagt und ihn ausreden lassen. Als ich es dann doch getan habe, hat er mich unterbrochen. Es fühlte sich an wie ein Autounfall.
Warum kommt so etwas immer wieder vor?
Bihegue: Ich denke, manchmal fehlt einfach eine gewisse Sensibilität.
Washington: Es gibt natürlich auch die ganz offenen rassistischen Handlungen, wenn zum Beispiel jemand Opfer von rassistisch motivierter Gewalt wird. Solche Fälle sind von ‚alltäglicheren‘ Situationen zu unterscheiden. Bei diesen Alltagssituationen habe ich das Gefühl, dass es häufig nicht um Absichtlichkeiten geht. Da ist vieles eher strukturell als individuell. Aber genau das macht solche Fälle schwerer greifbar und nachvollziehbar für Leute, die nicht betroffen sind. Fehlende Absichten entbinden aber auch niemanden von etwas: Wenn mir jemand auf den Fuß tritt oder mich mit dem Auto anfährt, ist es für die Auswirkungen dieser Handlungen auch egal, ob sie böswillig erfolgten oder fahrlässig. Die jeweiligen Folgen sind in beiden Varianten schmerzhaft.
Wie weit sind wir in Sachen gelebter Vielfalt im deutschen Rechtsmarkt und der Justiz aus deiner Sicht?
Washington: Wir sind in den letzten Jahren schon weitergekommen, das muss man sagen. Allerdings besteht gerade im juristischen Bereich noch viel zu häufig die Auffassung: „Weil wir Artikel 3, Absätze 2 und 3 im Grundgesetz haben, gibt es in Deutschland keine Benachteiligungen.“ Das ist so nicht richtig. Es wird aber besser. Ich merke das zum Beispiel in meiner eigenen Kanzlei. Wir haben ein regelmäßig tagendes Diversity-Komitee, das ernsthaft arbeitet. Das ist in Deutschland immer noch nicht selbstverständlich. Hier hinken wir im Vergleich zu anderen Ländern hinterher. Diversität ist leider häufig nur ein Lippenbekenntnis. Schwarze* Juristinnen und Juristen aus anderen Kanzleien haben uns des Öfteren berichtet, dass non-billable Arbeit im Diversity-Bereich von ihnen überproportional erwartet, aber nicht honoriert wird. Das ist problematisch, weil die Anzahl der Billable Hours in Großkanzleien ausschlaggebend für den Bonus am Jahresende und den Aufstieg ist.
Was muss sich ändern?
Bihegue: Es braucht die Bereitschaft, Betroffenen zuzuhören, sich mit ihnen auszutauschen und zu fragen, wie sie bestimmte Dinge wahrnehmen und was man gegebenenfalls ändern könnte. Man sollte als Nichtbetroffener nicht davon ausgehen, sofort über alles bestens informiert zu sein. Gerade weil eine ungleiche Behandlung subtil geschehen kann, ist es schwieriger greifbar als offener Rassismus. Im letzten Fall stellt man sich natürlich dagegen. Aber gerade wegen dieser Subtilität und der daraus resultierenden Schwierigkeit, problematische Fälle zu kommunizieren, sind derartige Erfahrungen im besten Fall nervig – im schlimmsten Fall verletzend. Aber es bleibt ein Prozess, der seine Zeit braucht. Wir sind Menschen und müssen da gemeinsam hineinwachsen.

Gabriel: Ebenfalls sollte eine gewisse Bereitschaft bestehen, sich mit dem Thema Rassismus auseinanderzusetzen. Wie Nelly bereits gesagt hat, ist die Kommunikation mit Betroffenen ein wichtiges Tool, um dahingehend in eine bessere Zukunft zu gelangen.
Welche Ziele verfolgt der Verein Afro-Deutsche Jurist:innen genau?
Washington: Wir wollen Sichtbarkeit nach innen und nach außen schaffen. Es sollte gesamtgesellschaftlich selbstverständlich sein, dass zu Anwaltschaft, Richterschaft und Staatsanwaltschaft auch Schwarze* Personen gehören. Darüber hinaus sind wir Ansprechpartner für Menschen aus der afro-diasporischen Community, die eine communitybasierte Rechtsberatung suchen, zum Beispiel weil sie Opfer von rassistisch motivierter Gewalt wurden. Allerdings bieten wir selbst keine Rechtsberatung an, sondern fungieren eher als Anlaufstelle, über die gegebenenfalls vermittelt werden kann. Drittens wollen wir das Recht mitgestalten, damit auch die Perspektiven der afro-diasporischen Community in Deutschland ausreichend berücksichtigt werden.
*„Schwarz“ wird hier großgeschrieben, weil es sich dabei nicht um eine reelle ‚Eigenschaft‘, sondern um eine Selbstzuschreibung von Menschen mit gemeinsamen Rassismuserfahrungen handelt.