Interview: „Routineaufgaben haben wenig Lerneffekt“
Lange Zeit galt die Juristerei als letzte Bastion analoger Routinen. Doch mit dem Einzug von Künstlicher Intelligenz in den Arbeitsalltag lassen sich viele Standardaufgaben automatisieren, die bis dato vor allem von Junganwälten übernommen wurden. Das stellt Kanzleien vor die Frage, wie sie künftig ihren juristischen Nachwuchs ausbilden wollen.
Vadym Kuzmenko (28) und Jonathan Melke (30) sind seit diesem Jahr Teil des deutschen Teams der kollaborativen KI-Plattform Legora: Kuzmenko als Legal Engineering Lead und Melke als Mitglied des DACH Growth Team und Entwicklungs-Lead für Deutschland. Vor ihrem Seitenwechsel in das 2023 in Stockholm gegründete KI-Start-up hatten beide bereits Großkanzleiluft geschnuppert: Melke als Associate in der Praxisgruppe IT- und Datenschutz von Hogan Lovells und Kuzmenko als Senior AI Solution Engineer und Mitglied des Digital Excellence Teams bei Noerr. Im Interview mit azur sprechen sie darüber, wie KI die Anwaltsausbildung und Karriereentwicklung auf den Kopf stellt.
azur: Wie verändert KI den Arbeitsalltag von Berufseinsteigenden in Kanzleien?
Vadym Kuzmenko: Die größte Veränderung betrifft die Arbeit, die Associates oder Junior Legal Counsel für gewöhnlich in den ersten Berufsjahren erledigen. Dabei handelt es sich oft um banale und eintönige Aufgaben wie Dokumentenvergleiche, die Übertragung von Daten zwischen Dokumenten oder die langwierige Suche nach Vorlagen. KI kann hierbei unterstützen und dadurch zwei wichtige Dinge ermöglichen: Zum einen vervielfacht sich das, was ein Berufseinsteiger in einem Jahr sehen und machen kann, sodass er in kürzerer Zeit einen viel besseren Überblick erhält – etwa durch eine höhere Schlagzahl an Transaktionen oder Fällen. Zum anderen verkürzt sich dadurch die Einarbeitungszeit, sodass Associates deutlich schneller hochwertige juristische Arbeit leisten können.

Jonathan Melke: Man muss sich nur die Frage stellen, was einen Partner mit zwanzig Jahren Berufserfahrung so wertvoll macht. Er hat unglaublich viel gesehen, war vor zahlreichen Gerichten und hat eine große Bandbreite an Mandaten bearbeitet. Man wird aber kein Spitzenanwalt, indem man in PDF-Dokumenten nach Informationen sucht – denn genau diese Arbeit kann die KI übernehmen.
azur: Sind niedrigschwellige Routineaufgaben nicht auch eine gute Möglichkeit, um sich an höherwertiges Geschäft heranzutasten und nimmt die KI dem Nachwuchs nicht genau diese Lernmöglichkeiten weg?
Melke: Dieser Befürchtung liegt ein weitverbreitetes Missverständnis zugrunde. Bei KI geht es aktuell ja nicht um Vollautomatisierung, sondern eher um eine Mitte-zu-Mitte-Automatisierung, also die Automatisierung eines Prozessabschnitts. Das bedeutet: Ich habe eine Lücke am Anfang und am Ende. Am Anfang muss ich verstehen, wie ich das Werkzeug richtig einsetze, um meine Aufgabe zu bewältigen. Das erfordert einerseits konzeptionelles Wissen über KI und gleichzeitig juristisches Fachwissen. Ich muss meine Aufgabe so gut verstehen, dass ich sie in Schritte zerlegen kann, um mir dann zu überlegen, welche Teilschritte überhaupt von KI erledigt werden können. Der abschließende Schritt besteht darin, die Antworten von KI kritisch zu überprüfen und juristisch zu bewerten, um sie dann in das eigene Arbeitsprodukt zu integrieren. Es geht also nicht darum, eine Aufgabe vollständig aus der Hand zu geben, indem ich auf einen Knopf drücke und anschließend ein fertiges Resultat bekomme, sondern darum, Nutzer zu befähigen, ihre Arbeit zu verbessern.
Kuzmenko: Viele Routineaufgaben haben auch nicht den Lerneffekt, den man ihnen zuschreibt und trotzdem werden sie von Associates im ersten oder zweiten Jahr erledigt – smarte Leute, die ihr Jurastudium mit guten Noten abgeschlossen haben und die weit davon entfernt sind, ihr volles Potenzial zu entfalten. Hinzukommt, dass Junior Associates selten ausführliches Feedback von Partnern erhalten, weil diese dafür gar nicht die Zeit haben. Ein KI-Tool wie Legora kann ausführliches Feedback etwa zu einem konkreten Schriftsatzentwurf oder zur allgemeinen Ausdrucksweise geben. Auf diese Weise kann KI den Berufseinstieg sogar verbessern.
azur: Ist es denn nicht trotzdem so, dass wir gewisse Dinge durch den Einsatz von KI verlernen?
Melke: Dass wir manche Aufgaben ohne Technik nicht mehr bewerkstelligen können, ist sozusagen allgemeines Lebensrisiko, aber ein vertretbares angesichts des enormen Vorteils: Mit KI bin ich fünf- bis zehnmal effektiver.
Kuzmenko: Abgesehen davon ist man ja nicht gezwungen, KI überall einzusetzen. Ich arbeite täglich intensiv mit KI, aber es gibt viele Aufgaben, die sie erledigen könnte, die ich trotzdem selbst mache. Wenn ich etwa eine E-Mail schreibe, dann lasse ich den Text nicht jedes Mal von der KI generieren. Sie schreibt zwar bessere Mails als ich, trotzdem mache ich das nach wie vor gerne selbst.
azur: Welche Rolle spielen die Universitäten beim Thema KI?
Melke: Im Studium hat man den Luxus, sich mit Themen zu beschäftigen, die nicht unmittelbar wertschöpfend sein müssen. Das wichtigste Wissen, das man für den Umgang mit KI benötigt, ist ein konzeptionelles Verständnis dieser Technologie. Dieses Verständnis zu entwickeln – also was kann KI, wo liegen ihre Grenzen, wofür kann man sie einsetzen – ist Aufgabe der Studienzeit.
Kuzmenko: Ich bin auch der Meinung, dass es in der Verantwortung der Universitäten liegt, Studierende mitzunehmen und ihnen zu zeigen, was KI für ihre berufliche Zukunft bedeutet. Sie müssen sich überlegen, was ihre Absolventen später tun werden und wie sie sie am besten darauf vorbereiten können. Stumpfes Auswendiglernen und anschließendes Reproduzieren ist nicht mehr zeitgemäß, wenn es Technologie gibt, die das ebenfalls kann. Hochschulen sollten den Einsatz von KI daher nicht verbieten, sondern ihr Curriculum an die Arbeitsrealität anpassen und Studierende dazu befähigen, verantwortungsvoll mit KI umzugehen.

azur: Welche Lernformate sollte es in der juristischen Ausbildung geben und wer sollte diese anbieten?
Melke: Universitäten haben den klaren Vorteil interdisziplinärer Formate. Technische Lehrstühle können etwa KI-Grundlagenkurse anbieten, die auch für Jurastudierende interessant sind. Umgekehrt können juristische Lehrstühle für einen rechtssicheren Einsatz von KI sensibilisieren.
Kuzmenko: Ich hatte das Glück, während meiner Studienzeit ein IT-Seminar für Juristen zu besuchen. Das hat mich dazu bewogen, mich intensiver mit Legal Tech auseinanderzusetzen und zu verstehen, was Technologie für meine Karriere als Jurist bedeutet. Ohne dieses Seminar wäre das ein blinder Fleck geblieben. Daher ist es umso wichtiger, dass Universitäten solche Angebote – sei es ganz allgemein zu Legal Tech oder konkret zu generativer KI – konsequent bereitstellen. Das Problem liegt tatsächlich eher darin, Lehrende zu finden, die sowohl juristisches als auch technisches Know-how mitbringen. Legal-Tech-Spezialisten sind immer noch selten und Universitäten können mit den Gehältern von Wirtschaftskanzleien oder Start-ups nicht mithalten. Die beste Lösung ist daher, Partnerschaften mit der freien Wirtschaft einzugehen und Praktiker einzubinden, die täglich mit diesen Technologien arbeiten. Das ist auch der Grund, warum wir bei Legora schon seit einiger Zeit sehr eng mit der Bucerius Law School zusammenarbeiten und auch Universitätskurse veranstalten, etwa an der Universität Münster.
azur: Wagen wir zum Schluss einen Ausblick: Wie sieht die Rolle von Berufseinsteigern in – sagen wir mal – fünf Jahren aus? Welche Skills werden besonders gefragt sein?
Kuzmenko: Bei der Geschwindigkeit der Entwicklung sind fünf Jahre schon ein weiter Blick in die Zukunft. Grundsätzlich wird man als Jurist immer noch dieselben Kernkompetenzen benötigen: Systemverständnis, Empathie, Risiko- und Konfliktmanagement, strategisches Denken. Diese Fähigkeiten werden zunehmend durch Technologie ergänzt. Daher ist es entscheidend, nicht nur klassische juristische Fähigkeiten zu entwickeln, sondern auch zu verstehen, wie man sich durch technologisches Wissen positionieren und abheben kann.
Melke: Die Frage, die man sich hierbei stellen muss, ist, wie man in der eigenen Position Wert schöpft. Das muss nicht bedeuten, ein vollständig KI-basiertes Produkt anzubieten. Es kann auch heißen, dass man durch KI-Einsatz zwei Stunden spart und diese dann für strategische Überlegungen nutzt. Wir werden sehen, dass Associates, die KI anwenden können, und Partner, die verstehen, wie KI Geschäftsmodelle beeinflusst und die den Weitblick haben, die richtigen Entscheidungen zu treffen, auch langfristig erfolgreich sein werden. Den anderen wird nicht sofort das Mandatsgeschäft wegbrechen, aber der Markt wird sich weiterentwickeln und es wird sich zeigen, welche Kanzleien wirtschaftlich erfolgreich sind und das Feld anführen.