Flucht nach vorne. Die Initiative ‚Recht vielseitig‘ unterstützt Akademiker im Jurastudium

Ein Jurastudent aus Gießen trifft auf einen renommierten Partner der Kanzlei Kapellmann und Partner aus Frankfurt. Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe finden sie durch die Initiative ‚Recht vielfältig‘ zusammen. Diese Initiative unterstützt Erstakademiker im Jurastudium und hilft ihnen, die finanziellen und sozialen Barrieren zu überwinden.

Das Jurastudium ist hart. Als Erster der Familie zu studieren noch härter. Malik Yilmaz, der eigentlich ganz anders heißt, studiert Rechtswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und bereitet sich derzeit auf sein Erstes Staatsexamen vor. Sein Großvater kam in den Siebzigerjahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Seine Eltern sind beide im Handwerk tätig. Der angehende Jurist wuchs bilingual auf und erkannte daher früh seine Stärke für sprachliche Fertigkeiten, was ihn letztendlich zu Jura führte. „Ich konnte mich schon immer gut artikulieren und Präsentationen frei vortragen“, sagt er.

Sein Weg durch das Studium war alles andere als einfach, doch er kämpfte sich durch. Von Anfang an war der Erstakademiker darauf angewiesen, sich selbst zu finanzieren. Damals entschied er sich gegen einen Studienkredit. Durch seinen Nebenjob zog sich sein Studium unweigerlich in die Länge, da er bis zu vier Tage in der Woche ganztags arbeitete. „Der Druck wurde immer stärker, als andere schneller mit ihrem Abschluss fertig wurden“, berichtet er. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und bat aktiv um Hilfe. Die bekam er bei der Initiative ,Recht vielfältig‘, einem gemeinsamen Projekt der Organisation ‚Arbeiterkind‘, der privaten EBS Universität und den drei Wirtschaftskanzleien A&O Shearman, Linklaters sowie Kapellmann und Partner. ‚Recht vielfältig‘ richtet sich explizit an Erstakademiker im Jurastudium und will sie auf ihrem Weg vom Studium bis zum Berufseinstieg unterstützen. Der Peer-to-Peer-Ansatz der Initiative macht eine niederschwellige Unterstützung möglich und sorgt für eine Kommunikation auf Augenhöhe.

So kam es, dass sich die Wege von Yilmaz und Kapellmann-Partner Prof. Dr. Martin Havers kreuzten. Die beiden sind nur ein Beispiel dafür, wie unterschiedliche Lebenswege und Erfahrungen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führen können. Seit dem Start der Initiative im Frühjahr 2024 konnten bereits mehr als 60 Paare erfolgreich vermittelt werden. Zwar gibt es einen Leitfaden und Ansprechpersonen, doch einem festen Rahmen folgt die Zusammenarbeit nicht. Das Mentoring orientiert sich vielmehr an den Bedürfnissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Yilmaz engagierte sich schon seit Längerem bei ‚Arbeiterkind‘, unabhängig von der juristischen Community. Und auch Havers hatte gute Gründe, sich an dem Projekt zu beteiligen. „Ich schätze die Möglichkeit, meine Erfahrungen weiterzugeben und dadurch einen Beitrag zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit in der juristischen Ausbildung zu leisten“, sagt der Anwalt. Anlässlich des 30-jährigen Kanzleijubiläums wollte Kapellmann ihr soziales Engagement verstärken und kooperierte daher mit ‚Arbeiterkind‘. „Dabei soll nicht nur die materielle Unterstützung im Vordergrund stehen“, erklärt Havers, „sondern vielmehr die fachliche und menschliche Orientierung“. Der Rechtsanwalt steht seinem Mentee mit Ratschlägen zur Seite und hilft ihm, die organisatorischen Hürden des Studiums zu überwinden. Auch bei der Anschaffung von Büchern und Lernmaterialien erhält der Jurastudent finanzielle Unterstützung.

Die erste Begegnung

An das erste Treffen erinnert sich Yilmaz noch gut. Es war ein heißer Sommertag im Juni 2024. Der Student saß nervös im Zug vom beschaulichen Gießen in die Metropole Frankfurt am Main. „Ich wusste nicht, was mich erwartet, aber meine Erwartungen waren hoch“, erinnert er sich. Mit großen Schritten näherte er sich dem beeindruckenden gläsernen Palast, in dem er Havers treffen sollte. Die Hochhauskomplexe beeindruckten ihn ebenso wie die Persönlichkeit, die er heute treffen würde. Er war gut vorbereitet, hatte seine ,Hausaufgaben‘ gemacht und den Lebenslauf von Havers gründlich studiert. Zahlreiche Veröffentlichungen und der Titel als Fachanwalt für Baurecht des Jahres sorgten für ein gewisses Maß an Ehrfurcht.

Eine ähnliche Situation hatte der angehende Anwalt am ersten Tag seines Jurastudiums erlebt. Der Kontrast zu seinem gewohnten Umfeld war einfach zu groß. Als Arbeiterkind fühlte er sich damals an der Universität im Hörsaal wie ein Fremdkörper. „Es war alles sehr befremdlich für mich. Es war nicht nur die andere Kleidung, die ich trug, sondern auch der subtile Rassismus, den ich aufgrund meines Migrationshintergrundes erfuhr“, erklärt er.

Foto: Kapellmann und Partner
Fachliche und menschliche Orientierung: Als Mentor der Initiative ‚Recht vielfältig‘ setzt sich Martin Havers von Kapellmann und Partner für mehr Chancengleichheit im Rechtsmarkt ein.

Auch Havers und sein Mentee könnten – auf den ersten Blick – unterschiedlicher nicht sein. Havers stammt, wie die Mehrheit der Juristinnen und Juristen, aus einem Akademikerhaushalt. Die Anschaffung von Lernmaterialien oder ein wegweisender Ratschlag zum richtigen Zeitpunkt des Studiums waren für den heute 61-Jährigen selbstverständlich. Doch beim ersten Aufeinandertreffen an diesem heißen Junitag nahm Havers dem Studenten alle Bedenken. Beide beschreiben ihren Austausch als offen und authentisch, sodass jegliche Anspannung schnell verblasste. „Endlich konnte ich über all meine Sorgen und Nöte sprechen“, verrät der zukünftige Jurist. „Herr Havers hat es mir einfach gemacht, mich zu öffnen“.

Vom Brennpunkt in den Hörsaal

Auch Agmal Bahrami kennt das Gefühl, aus einer homogenen Masse herauszustechen. Er wuchs in Darmstadt-Kranichstein auf, einem Viertel, das als Hochhaussiedlung und sozialer Brennpunkt bekannt ist. Dort lebten viele Migrantenkinder auf engem Raum zusammen. Trotz dieser Herausforderungen legten seine Eltern ihm nahe, das Gymnasium zu besuchen und ein Studium zu beginnen, um seine Zukunft abzusichern. Sie kamen vor etwa 35 Jahren nach Deutschland und waren stolz auf die Vorstellung, dass er Arzt oder Anwalt werden könnte. Ein Erstakademiker im klassischen Sinne ist Bahrami jedoch nicht. Sein Vater studierte in Afghanistan Bauingenieurwesen, allerdings fand der Abschluss in seiner neuen Heimat keine Anerkennung. „So etwas wie einen Mentor habe ich nie gehabt“, sagt Bahrami, „doch ich blickte stets zu meinem Onkel auf, der in Deutschland Medizin studierte und sich als Arzt selbstständig machte“.

Der 33-Jährige wollte ursprünglich Pilot werden, doch dieser Traum platzte bei der Aufnahmeprüfung. Er wuchs mehrsprachig auf, sprach zu Hause gleich beide afghanischen Amtssprachen, nämlich Dari und Paschtu. So tat er sich anfangs in der Schule schwer mit Deutsch, wohingegen es im Matheunterricht schon immer richtig gut lief. Das hielt ihn aber nicht davon ab, Jura zu studieren. „Zu Beginn habe ich mir gut überlegt, ob ich es wirklich machen soll“, erinnert sich Bahrami, „letztlich überwog mein positives Mindset und der Wunsch danach, etwas Vernünftiges zu machen“.

Sozialer Aufstieg dank Jurastudium

Während seines Studiums an der EBS Universität Wiesbaden arbeitete Bahrami als Barkeeper und im Catering, um sich finanziell über Wasser zu halten. Später half er in der Universitätsbibliothek aus, um jede freie Minute zum Lernen nutzen zu können. Er nahm einen privaten Studienkredite auf und erhielt BAföG. Anders als viele seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen lebte er weiter bei seinen Eltern, um Kosten zu sparen. Die meisten seiner Studienkollegen hatten einen anderen familiären Hintergrund als Bahrami. „Es gab schon mal den einen oder anderen Witz in meine Richtung, aber darauf reagiere ich eigentlich immer recht entspannt“, verrät der junge Anwalt.

Bahrami absolvierte sein erstes juristisches Praktikum bei der US-Kanzlei Skadden Arps Slate Meagher & Flom, was ihm rückblickend die Augen für die finanziellen Möglichkeiten des Anwaltseins öffnete. Er erkannte, dass man in diesem Berufsfeld mehr verdienen kann als ein Arzt oder Pilot. Dennoch betont er, dass Geld allein nicht ausschlaggebend war. Er wollte Freiheit und finanzielle Sicherheit, was ihn motivierte, das Jurastudium durchzuziehen. So war es ein mehr als erleichterndes Gefühl, als er nur kurz nach dem Berufseinstieg all seine Studienschulden auf einen Schlag zurückzahlen konnte.

Heute arbeitet der Transaktionsanwalt bei der US-Kanzlei White & Case in Frankfurt, wo er insbesondere zu Fintech, Private Equity und Venture Capital berät. Bahrami wurde vor Kurzem Vater und legt viel Wert darauf, neben dem Job so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie zu verbringen. Die harte Arbeit hat sich ausgezahlt. „Ich kann mir und meiner Familie problemlos Reisen ermöglichen und auch meinen Eltern etwas zurückgeben“, erzählt der Associate. Jungen Studierenden, die in einer ähnlichen Situation stecken wie er damals, rät er: „Seid fleißig, beißt euch durch und folgt eurer Vision.“

Diversität ist Mangelware

Dass der Rechtsmarkt ein strukturelles Problem mit fehlender Diversität hat, ist mehr als ein offenes Geheimnis. Die Ergebnisse der Anwaltsstudie der London School of Economics and Political Science aus dem Jahr 2022, an der auch JUVE beteiligt war, zeigen es schwarz auf weiß. Demnach sind Partnerschaften in deutschen Kanzleien vor allem deutsch, männlich und weiß. Anwälte mit Migrationshintergrund findet man nur selten. Während etwa ein Fünftel der Associates mindestens einen Elternteil mit ausländischen Wurzeln hat oder selbst im Ausland geboren ist, reduziert sich dieser Anteil in der Equity-Partnerschaft auf nur ein Zehntel. Zudem stammt mehr als die Hälfte der Befragten aus einem Akademikerhaushalt.

Foto: Dominik Rosse
Positives Mindset: Agmal Bahrami, Transaktionsanwalt von White & Case, hat sich seine Unabhängigkeit hart erarbeitet.

Wirklich etwas geändert hat sich in den drei Jahren nach der Studie nicht. Das belegen auch Kommentare aus der aktuellen azur-Associate-Umfrage: „Diversität steht angeblich ganz oben auf der Agenda. Das Foto der aktuellen Partnerschaft sagt etwas anderes“, heißt es zum Beispiel. Ein anderer Teilnehmender bemängelt: „Nach außen hin sind Diversität und ein modernes Mindset wichtig, innerhalb der Kanzlei herrschen weiterhin festgefahrene und konservative Strukturen, die vom Denken der ,old white men‘ geprägt sind.“

Wie es in Kanzleien beim Thema Diversität weitergeht, steht nach den jüngsten Ereignissen in den USA ohnehin in den Sternen. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump wurden die Diversity, Equity, and Inclusion (DEI)-Programme in den USA erheblich eingeschränkt. Trump erließ bereits an seinem ersten Amtstag ein Dekret, das alle DEI-Programme in Bundesbehörden beendete. Diese Programme, die darauf abzielen, historisch benachteiligten Gruppen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu bieten, wurden als rechtswidrig abgetan, da sie angeblich eine Bevorzugung von Minderheiten darstellen.

US-Kanzleien unter Rechtfertigungsdruck

Im nächsten Schritt nahm die US-Regierung Anwaltskanzleien und deren Programme ins Visier. Mehrere Kanzleien sollten gezwungen werden, Details zu ihrer Personalpolitik und zu Mandatsvereinbarungen offenzulegen.

Die Auswirkungen dieser politischen Entscheidung sind auch hierzulande weitreichend. Viele Unternehmen und Organisationen, die zuvor DEI-Initiativen unterstützten, mussten ihre Strategien überdenken und anpassen. Während einige Unternehmen weiterhin, mehr oder weniger heimlich, an ihren Diversitätszielen festhalten, haben andere ihre Programme vollständig eingestellt. Gleiches gilt für US-Kanzleien inklusive ihrer europäischen Niederlassungen.

In Zeiten wie diesen sind Initiativen wie ‚Recht vielfältig‘ relevanter denn je. Inzwischen sind der Jurastudent und Havers nicht nur Mentee und Mentor, sondern auch enge Weggefährten. Ihre Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, Barrieren abzubauen und den Zugang zur juristischen Ausbildung für alle zu ermöglichen.

„Ein derartiges Projekt ist wichtig und war längst überfällig“, findet Havers. Wenn der Mentee sein Examen erfolgreich bestanden hat, plant er, seine erste Bewerbung an Kapellmann zu richten. Großkanzlei-Hopping ist für ihn keine Option. Denn er sucht nach einem Arbeitsplatz, der seine Werte und seine Vorstellung von einer menschlichen Arbeitsumgebung respektiert.


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